„Sex wird zu oft mit Erotik gleichgesetzt“

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Sexspielzeug Porzellan

Das muss man nicht in der Nachttischschublade verstecken: Zwei Start-Up-Gründerinnen haben Sexspielzeug aus Porzellan entwickelt. Damit wollen sie auch die Themen Sexualität und weibliche Lust enttabuisieren.

Dieser Artikel erschien zunächst bei faz.net

Frau Lipinski, Frau Machmer, Sie bringen ästhetisches Sexspielzeug aus Porzellan auf den Markt. Das klingt kalt und irgendwie auch schmerzhaft.

Tara Lipinski: Das hören wir oft! Aber ja, wir haben zwei Dildos aus Porzellan entwickelt, die alles andere als schmerzhaft sind. Porzellan ist vergleichbar mit Glas, was ja auch schon lange ein gängiges Material bei Sexspielzeugen ist. Es ist sehr gleitfähig, tut also nicht weh und passt sich schnell der Umgebungstemperatur an. Wenn das Produkt eine passende Größe hat, ist so ein festes Material wunderbar. Jede Bewegung die ich ausübe, überträgt sich eins zu eins dorthin, wo ich sie haben will. Außerdem hat Porzellan ein angenehmes Eigengewicht.

Julia Machmer: Porzellan hat eine ganz eigene charakteristische Ästhetik: Es ist unaufdringlich schön und wirkt sehr edel und hochwertig zugleich. Was für uns als Gestalterinnen auch noch ein großer Vorteil ist: Porzellan wird wie Silikon gegossen, wir sind also in Sachen Formen und Detailtreue sehr frei.

Können die Produkte bei der Verwendung kaputt gehen?

Lipinski: Nein, bei sachgemäßer Anwendung kann das nicht passieren. Wir nutzen technisches Porzellan mit einer dicken Wandstärke. Die spezielle Zusammensetzung der Bestandteile führt dazu, dass Porzellan extrem stabil ist. Man kann gar nicht so viel Kraft aufwenden, dass man es mit der Hand oder dem Beckenboden zerdrücken kann.

Sie wollen zunächst mit zwei Produkten an den Start gehen. 

Lipinski: Nummer Eins ist „Clara“, die zart und geschwungen ist. Mit „Clara“ kann man äußerlich punktuell stimulieren und wenn man sie einführt, kommt man durch die Bogenform sehr gut an die G-Fläche heran. Besonders ist vor allem die ausformulierte Griff-Mulde, damit man „Clara“ sehr gut greifen und bewegen kann. Und dann haben wir noch „Helen“, die länger ist und einen konischen Schaft und eine voluminöse Kugel hat. Die Form eignet sich, um die Sensibilität im Inneren der Vagina zu stärken. Hier bildet eine kleine Kugel den Griff.

Warum haben Sie den Produkten Frauennamen gegeben?

Machmer: Wir wollten leicht auszusprechende und kurze Namen, die ein freundschaftliches Verhältnis zum Produkt schaffen. Unser Ziel ist es, die Kommunikation untereinander anzuregen und zu erleichtern. Wir haben jetzt schon gemerkt, dass das sehr gut funktioniert, als wir unsere Produkte zum Testen an Freundinnen verteilt haben. Es fiel allen sehr leicht, über Helen und Clara zu sprechen.

Hatten Sie vorher den Eindruck, dass das Sprechen über dieses Thema schwierig ist?

Machmer: Absolut! Wir haben beide festgestellt, dass wir selbst große Probleme hatten, über unsere eigene Sexualität zu sprechen – also über unsere Bedürfnisse, Grenzen, Wünsche und Körperlichkeit. Wir sind seit vielen Jahren befreundet und haben irgendwann gemerkt, wie befreiend es ist, darüber zu sprechen und vor allem auch mal sagen zu können, was nicht gut gelaufen ist.

Auf Ihrem Instagram-Account schreiben Sie, dass Sie einen „schönen Gegenentwurf zu herkömmlichen Sexshops“ schaffen wollen. Was hat Sie denn gestört?

Machmer: Wir haben uns sowohl vor Ort als auch online oft nicht wohlgefühlt. Und man kauft ja nicht nur ein Produkt, sondern auch ein Gefühl ein. Sexshops sind in großen Teilen sehr anonym, die Atmosphäre stimmt für uns nicht, und die meisten Produkte gefallen uns nicht. Außerdem haben uns die Menschen auf den Plakaten und Websites nicht angesprochen. Dort wurden und werden häufig genug immer noch dieselben heteronormativen Klischees abgebildet. Sex wird in unseren Augen zu oft mit Erotik gleichgesetzt. Wir würden gerne dahin kommen, dass Sex Alltag ist. Und der Alltag findet manchmal eben auch mal in der Jogginghose und nicht nur in Spitzenunterwäsche statt.

Dabei sind Lust und Selbstbefriedigung alles andere als alltägliche Themen, vor allem bei Frauen. Warum ist das so?

Machmer: Wir sind noch viel zu nah an Zeiten dran, in denen Sexualität stark einer alten Vorstellung von Moral und Sitte untergeordnet war. Das hat die Gesellschaft Hunderte Jahre lang geprägt. Da reichen 50 oder 60 Jahre Aufklärungsunterricht in der Schule und die sexpositive Bewegungen vermutlich nicht aus, um unsere Sozialisation in diesem Thema grundlegend zu verändern.

Lipinski: Patriarchale Strukturen spielen dabei ebenfalls eine große Rolle. In dieser Tradition von Männerdominanz mussten Frauen oftmals einem bestimmten Bild entsprechen. Daraus resultiert dann auch das Gefühl, dass es unangenehm ist, wenn Frauen ihrer eigenen Sexualität nachgehen. Ganz zu schweigen von queeren Menschen.

Nicht nur Sie, auch Anbieter wie Eis.de oder Amorelie versuchen, das Thema Lust neu zu verkaufen und in den Alltag eines jeden zu bringen. Reicht das nicht?

Lipinski: Für uns leider noch nicht. Große Schritte sind gemacht worden, aber die Gesprächsqualität hat sich noch nicht ausreichend verändert. Nur weil man jetzt leichter an schönere Sexspielzeuge kommt, heißt das nicht, dass man auch darüber spricht. Im Freundeskreis tauscht man sich ja zumeist nur über sexuelle Erfahrungen zu zweit aus. Über die eigene Lust und den individuellen Körper wird viel seltener gesprochen. Lust ist für uns mit einer gesunden Körperwahrnehmung verknüpft. Was gefährlich ist, ist, wenn man zum Beispiel anfängt sich für die eigenen Genitalien zu schämen, weil beispielsweise zu lange nicht bekannt war, wie unterschiedlich Vulven aussehen können. Und genau da greift wieder das Wort Alltag

Ist weibliche Lust immer noch ein Tabu?

Machmer: Tabu ist vielleicht nicht das richtige Wort. Es stellt sich ja niemand vor mich und verbietet mir, Lust zu empfinden oder darüber zu sprechen. Auf der anderen Seite hatte ich ja selbst große Schwierigkeiten, mich darüber auszutauschen. Vielleicht ist Sprachlosigkeit der passendere Begriff. 

Lipinski: Es kommt vermutlich darauf an, wo man ansetzt. Da geht es ja nicht nur um Selbstbefriedigung, auch die Kleidung und das Auftreten werden oftmals sexualisiert. Bei Menschen, die so denken, ist vermutlich wirklich noch ein großes rotes Kreuz im Kopf, wenn es um weibliche Lust geht. Viele andere stehen aber sicherlich auf der Schwelle zum Umdenken.

Tabus funktionieren ja beidseitig. Ich schäme mich, über meine eigene Sexualität zu sprechen, und die Gegenseite fördert das durch Be- oder Abwertung.

Machmer: Das ist der Punkt. Wir haben nie gelernt, darüber zu sprechen. Das fängt schon im Elternhaus an, wenn Kinder ganz absichtslos ihre eigene Körperlichkeit bemerken. Eltern unterbinden diese Entwicklung oft, das überträgt man dann für viele Jahre in die weitere Entwicklung. Da kann ich auch von mir selbst sprechen, für mich hat sich Selbstbefriedigung viele Jahre merkwürdig angefühlt. Das war etwas Stilles und Heimliches, mindestens unter der Bettdecke und meistens auch über der Kleidung. Dass es ein Spannungsfeld zwischen diesem eigentlich schönen Vorgang und dieser Scham gibt, ist wirklich schade.

Ziehen Sie alle Ideen für Ihr Unternehmen Labim aus eigenen Erfahrungen?

Lipinski: Wir tauschen uns extrem viel aus, nur von sich und seinen Vorlieben auszugehen, wäre ein riesiger Fehler. Wir kommen ja aus der Produktgestaltung, sind gelernte Tischlerinnen und studierte Designerinnen, alles andere müssen wir uns anlernen.

Auch beim Thema Gründen vermutlich.

Lipinski: Ich habe zusätzlich ein BWL-Studium und Julia eine Weiterbildung zur Fachfrau für kaufmännische Betriebsführung nach Handwerksordnung absolviert. Natürlich merken wir jetzt, dass es sehr viele Dinge zu beachten gibt, aber wir hatten vor dem Gründen per se keine Angst und haben mittlerweile ein großes Netzwerk und auch Unterstützung aus der Familie, die ebenfalls Erfahrung mit Selbstständigkeit hat. Eine weitere große Sicherheit war das Gründerstipendium, das wir in Münster bekommen haben. Dadurch konnten wir jetzt ein Jahr in Vollzeit an Labim arbeiten und haben noch bis Ende Oktober eine finanzielle Grundsicherheit.

Machmer: Eine Anekdote zum Gründerstipendium: Uns wurde ganz zu Anfang von der Wirtschaftsförderung gesagt, dass das Thema oder der Bereich, in dem wir tätig sein werden wollen, wahrscheinlich nicht förderfähig sein wird. Wir mussten erst deutlich machen, dass wir uns von der Erotik-Branche abkoppeln und uns im Bereich der sexuellen Gesundheit ansiedeln, um förderfähig zu sein. Auch die Startup-Welt ist noch etwas spießig.

Und wie fallen die Reaktionen auf Ihre Arbeit aus?

Lipinski: Überwiegend positiv, zum Glück. Zu Beginn wurde uns gesagt, dass das Projekt aufgrund des Themas nicht leicht sein wird, und dass wir mit viel Gegenwind rechnen müssten. Der ist aber ausgeblieben, bis auf die anfängliche Fragwürdigkeit mit der Förderung haben wir ausschließlich positives Feedback bekommen.

Sie wollen nicht nur Profit machen. Was genau ist das Ziel von Labim?

Lipinski: Ja, wir haben tatsächlich mehrere große Ziele. Unser Größtes ist es, Aufklärungsarbeit zu leisten. Vielleicht auch in Form einer Aufklärungs-Messe, die Menschen miteinander ins Gespräch bringen kann. Und wir wollen, dass sich niemand mehr von jemand anderem erzählen oder gar verbieten lassen muss, wie er oder sie zu empfinden hat und was falsch oder richtig ist. Im Bezug aufs Essen sagt uns das ja auch niemand und wenn es um Sexualität geht, sollte das auch nicht mehr passieren. Bei uns dreht sich alles um das Thema Sprechen. Auch unser Markenname: Labim leitet sich vom lateinischen „Labium“ – Lippen – ab. Eine tolle Doppeldeutigkeit!